Ein Nailaer Schuster erzählt aus seiner Kindheit
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, dann ist mir unsere große Wohnstube gegenwärtig. Ich sehe mich noch im halbdunklen Winkel nahe dem großen eisernen Ofen spielen. Wenn die Mutter die Ofentür öffnete, und in das mir riesig erscheinende Maul des schwarzen Ungetüms trockene Fichtenzapfen aus der geflochtenen Schanze schüttete, beleuchtete wohl das aufzuckende Feuer für einen Augenblick mein seltsames Spielzeug: Leisten waren es. große und kleine, dazwischen verstreut winzige Holznägel und sonderlich geformte Lederstückchen. Immer roch es ein wenig nach Leder, nach Wald und Harz, und am Abend mischte sich der Dampf darunter, der aus dem riesigen Kartoffeltopf strömte.Der hellere Teil des Raumes gehörte meinem Vater. Zwischen den beiden Eckfenstern hatte er sein Reich auf einem Podest aufgebaut. Dort saß er in seiner langen blauen Schürze auf dem niedrigen Dreifuß, seinen Schuh mit dem Knieriemen fest auf den Knien haltend. Den „Ort“ in der Linken und den Schusterhammer in der Rechten führend, stach er eine saubere Doppelreihe winziger Löchlein rings um die Sohle. Oft bewunderte ich die Beweglichkeit seiner klobigen, rissigen und vom Schusterpech geschwärzten Finger. Ab und zu fuhr er mit seinem Stechwerkzeug in ein Stückchen Kernseife auf dem tiefen, roh gezimmerten Schustertisch. Ganz durchlöchert war sie schon, und mein Vater meinte dazu: „Wer gut schmiert, fährt gut.“ Fertig war das schöne Lochmuster auf der Sohle aber erst dann, wenn der Vater in die vorgestochenen Löchlein die kleinen Holznägel eingeschlagen hatte, mit denen ich so gerne spielte. Immer hielt er ein paar davon zwischen den Lippen und verstand es, jeden Stift mit ein, zwei Schlägen ins Leder zu treiben. Mit der Raspel schabte er zum Schluss die überstehenden Holzenden ab und griff zum nächsten Schuh.
Wenn der Vater am Abend die Petroleumlampe auf seinem Werktisch anzündete, war ich stets an seiner Seite. Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich dann auf die mit Wasser gefüllte Kugel am eisernen Halter, in deren Glanz sich unsere kleine Welt in den wunderlichsten Formen spiegelte.
Immer wieder fasste mich der Zauber, der sich allabendlich meinen staunenden Kinderaugen bot: Kaum hatte der Vater die Lampe angezündet, begann er seine „Zauberkugel“ so lange auf dem Tisch zu verschieben, bis sie gleichsam alle Helligkeit in einem Punkt magisch gesammelt zu haben schien und in breitem Schein gerade dorthin lenkte, wo des Vaters fleißige Hände werkten. Oft mag es Mitternacht gewesen sein, wenn der Vater sein Werkzeug endlich aus der Hand legte und das Licht löschte.
Derbe Schnür- und Schaftstiefel waren es meist, die da unter seinen Händen entstanden, gedacht für Bauern, Holzfäller, Bergleute und Flößer. Manchmal arbeitete der Vater auch an einem Paar feiner Reitstiefel, deren weiche Schäfte ich ehrfurchtsvoll betastete. Der Vater hatte sie einem feinen Herrn angemessen. Und als der gegangen war, hatte uns der Vater erklärt, dass dies ein reicher Viehhändler und ein guter Kunde gewesen sei! Bei solcher Arbeit erlebte ich meinen Vater am fröhlichsten. Die Schuhe waren ja bestellt – das bedeutete also sicheres Geld. Deshalb pfiff er so fröhlich und besprach mit der Mutter, dass man nun bald das neue Bett anschaffen könne.
Meistens aber machte mein Vater Schuhe für Käufer, die erst gefunden werden mussten. Bevor er ein solches Paar derber Schnürstiefel beiseite stellte, holte der Vater ein Stück Kreide aus der Hosentasche und malte den Preis auf die Sohle: 6,50 Mark. „Da kriegen wir doch viel Geld!“ jubelte ich, als ich mich mit den Zahlen und mit dem Geld langsam auszukennen begann. Aber der Vater belehrte mich: „Dummer Bub! Muss ja die Nägel und das Leder auch kaufen. Da verdiene ich höchstens eine Mark am Paar.“ Und ich errechnete im Stillen, dass der Vater dann ja bloß zwei Mark am Tage verdiene, denn zwei Paar Schuhe wurden täglich fertig, das aber auch nur dann, wenn die Mutter fleißig mithalf. Ein großer Laib Brot kostete damals 50 Pfennige, das Pfund Fleisch 60 und ein Viertel Bohnenkaffee 25 Pfennige. Ich war gescheit und machte meinem Vater einen glänzenden Vorschlag, wie mir schien: „Da musst du halt 10 Mark für ein Paar nehmen!“ Dazu lachte der Vater bitter und er erzählte mir von neuen Maschinen , die viel, viel flinker nagelten als seine Hände es je vermochten und von Nadeln, die wie von Geisterhand geführt in rasender Geschwindigkeit die schönsten Nähte steppten. Aber diese Maschinen seien von weit, weit her, aus England kämen die Teufelsdinger und wären so teuer, dass allerhöchstens der Millionen-Heckel sie kaufen könne. „Weil es damit so schnell geht, sind die Maschinen-Schuhe auch viel billiger,“ erklärte mir der Vater. „Wenn ich meine guten Stiefel überhaupt noch anbringen will, muss ich sie grad so billig hergeben wie diese neumodischen Dinger, die hinten und vorne nichts taugen!“
Kein Wunder, dass ich im kindlichen Spiel das Tun meines Vaters nachzuahmen begann. Oft stibitzte ich ein Werkzeug vom Tisch und versuchte mich an Lederrestchen. Sehr stolz war ich über meinen ersten „Auftrag“: Nachbars Trinele hatte ein Paar Pantöffelchen für ihre Puppe bestellt. Mit wichtiger Miene nahm ich Maß und versprach pünktliche Lieferung. Gespannt sah das Trinele zu und war außer sich vor Freude, als es bald darauf seiner großen Lieblingspuppe ein Paar wohlgelungene Lederpantöffelchen über die dicken Patschfüße stecken konnte. Selbst mein Vater schmunzelte über die kleinen Pantoffeln, die seinem eigenen Erzeugnis aufs Haar glichen! Mir aber wurde von der reichen Auftraggeberin ein „süßer Lohn“: eine Tüte herrlichen braunen Kandiszuckers!
Bald darauf aber zeigte sich auch der Nachteil solcher Geschicklichkeit: Ich bekam einen kleinen Dreifuß auf die andere Seite des Schustertisches gestellt und musste meinem Vater fleißig zur Hand gehen. Mit meinen flinken kleinen Fingern konnte ich ihn in manchen Arbeiten sogar übertreffen. Wenn er mir die Sohle vorgestochen hatte, nagelte ich sie in einer Viertelstunde! Daher war mein Vater gar nicht froh, als ich in die Schule musste. Nun war ich am Vormittag Schulbub, am Nachmittag aber Schusterjunge – und das oft bis in die späte Nacht hinein. Nicht selten lag der Katechismus neben meinem Werkzeug und zum Hämmern sagte ich Liederverse und Glaubensartikel auf!
Schlimm war es, wenn ich ein Geschwisterchen bekam. Dann fiel die Arbeit der Mutter mindestens für eine Woche ganz oder doch teilweise aus. In dieser Zeit vermehrten sich meine Aufgaben. Ich hatte das Oberleder auf den Leisten „aufzuzwicken“, eine Arbeit, für die sonst die Mutter zuständig war. Dazwischen musste ich auch einmal zwischen den kleinen Geschwistern im Spielwinkel Ordnung stiften. Mein Vater schickte mich an solchen Tagen einfach nicht zur Schule. Und unser „Kantor“, wohl um unsere Not wissend, duldete es nachsichtig. Das Trinele sagte mir rasch die Lernaufgabe durchs Fenster, denn da durfte nichts versäumt werden.
Selbstverständlich musste ich auch einkaufen. Viel hatte ich auf meinen armseligen Gängen nicht zu merken. Am Abend gab es einen Hering für uns alle, manchmal auch eine Schüssel Quark. Die guten, mehligen Kartoffeln bauten wir selbst auf dem gepachteten Feld. Die Suppe war so einfach, dass ich sie leicht bereiten konnte. Einmal war es Milch mit Brotschnitzen darin, das andere Mal eine Pfeffersuppe aus Brotschnitzen, Speck und Zwiebeln. Gottseidank versorgten uns die beiden Ziegen reichlich mit Milch. Wir hatten nicht viel hinzuzukaufen: Salz, Mehl, Brot, Speck oder Schweinefett, dann und wann etwas Kaffee und Zucker. Zu den Sonntagsklößen gab es den Braten aus dem eigenen Hasenstall.
Alle 14 Tage packte der Vater die Arbeit von zwei Wochen in seinen großen Sachsenkorb und machte sich auf den Weg nach Kronach. Wenn er dort einen Sonntagsmarkt besuchen wollte, brach er am Samstagabend auf, wanderte die Nacht durch und war am Sonntagfrüh der erste Schuhhändler am Marktplatz. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie er den weiten Weg diese Last von meistens 25 Paar Stiefeln schleppen konnte. – In Kronach hatte er einen festen Stand gemietet. Als Nailaer Schuhmacher genoss er von vornherein einen guten Ruf. Man gab etwas auf die Handschusterware aus unserer Stadt. Weit und breit waren die Nailaer Schnür- und Schaftstiefel und die Lederpantoffeln bekannt.
Als ich noch klein war, kam der Vater meistens gutgelaunt zurück. Er hatte uns manchmal sogar etwas mitgebracht: Für die Mutter ein Viertel Kaffee, für sich selber etwas Tabak und für uns Kinder eine große Tüte mit bunten Bonbons. In seiner Tasche klingelte es fröhlich. Tags darauf schlug er seine Schürze ein und nahm mich mit zum Steg-Heckels-Gerber zum Ledereinkauf. Dort zeigte er mir die verschiedenen Ledersorten und lehrte mich, wie man fachmännisch das Leder prüft. Auf dem Heimweg ließ er sich schließlich auch einmal von einem ausgehängten Bierzipfel locken – und auch ich durfte am Frischgebrauten nippen.
Mit den Jahren aber ließen die Geschäfte nach. Einige reiche Schuhhändler aus seinem Kundenkreis hatten moderne Schuhmanufakturen errichtet und wollten seine einst so geschätzte Handarbeit nicht mehr gebührend entlohnen. Auch aus den Zunftversammlungen im „Grünen Baum“ kam er oft recht trübselig heim. Alle Nailaer Schuster spürten, wie die Maschinenschuhe ihre Handarbeit zu verdrängen und ihre Existenz zu vernichten begannen. Manchmal gab der Vater gegen Schluss der Marktzeit seine Ware zum reinen Selbstkostenpreis her, damit er wenigstens den Lederhändler bezahlen und mit leerem Korb heimgehen konnte.
Ein paar Wochen vor meiner Konfirmation legte der Vater ein Stück vom besten Oberleder vor mich hin. „Nun zeig, was du kannst!“ sagte er. „Deine Konfirmationsschuhe sollst du dir selber machen!“ Etwas zaghaft zuerst, aber dann freudig erregt ging ich ans Werk. Ein Paar feine Schnürschuhe schwebten mir vor, mit feinen Ziernähten und mit dünnen Sohlen. Bald war ich mit Feuereifer am Werk. Mein Vater tat, als ob ihn dies alles nichts anginge. Aber ich begann zu ahnen, dass dies wohl so eine Art Prüfung für mich sein sollte. Ich weiß noch heute nach mehr als 60 Jahren, welche Freude ich empfand, als mein erstes selbständiges Werk unter meinen Händen Form annahm. Als die Schuhe fertig waren, reichte ich sie erwartungsvoll meinem Vater und Meister. Der drehte sie lange wortlos in seinen Händen hin und her, besah sie von außen und innen und gab sie mir endlich mit den Worten: „Bub, dir kann ich nichts mehr beibringen!“ zurück.
Und er hatte nichts dagegen, als ich bald darauf mein Bündel schnürte, um mich in anderen deutschen Werkstätten umzusehen.
(Nach den Erzählungen des Herrn Gesellensetter – Seniorchef der Schuhfabrik FRANKEN) – Aufgezeichnet von Hera Vogel